Montag, 23. Mai 2016

Ab ins Gras - aber immer schön langsam

Zugegeben, wir schielen schon manchmal sehnsüchtig ins grasgrüne Gras. Wäre schön, sich von morgens bis abends die Backen vollzustopfen. Aber das ist momentan noch nicht drin. Da sind unsere Zweibeiner ganz eisern. Das Wetter hat uns bisher ja auch wirklich einen Strich durch die Weiderechnung gemacht: Regen, Regen, Kälte, Hagel und Schnee. Weidegang lag da in weiter Ferne. Erst jetzt macht der Frühling so langsam seinem Namen alle Ehre. Die Sonne lässt nun endlich die Gräser sprießen.

Insofern dürfen wir seit drei Wochen Gras zupfen, täglich etwas mehr, so dass wir uns langsam aber sicher dem Ganztagsparadies in Grün nähern. Das richtige Anweiden, das heißt langsames Gewöhnen ans Gras, ist enorm wichtig, um Koliken, Rehe und Durchfälle zu vermeiden. Und anders als viele glauben, ist die vorsichtige Umstellung auf Gras nicht nur für Ponies oder rehegefährdete Kollegen vorbehalten, sondern wirklich für uns alle. Auch unsere muhenden Freunde bilden da keine Ausnahme.
                                                                                                             
 




So sehen Weidenwonnen aus. Immerhin dürfen wir jetzt schon für drei Stunden ins Gras. Das lohnt sich ja wenigstens...


 

 

 

 

 

Eine Winterweide hat nicht jeder


Nicht jeder ist mit einer Winterweide gesegnet, was den Übergang zur Sommerweide erleichtern würde, weil unser Verdauungstrakt damit gar nicht erst rigoros vom Gras entwöhnt würde. Doch dieses Glück haben aber nur wenige Pferde. Auch uns ist es nicht vergönnt, so dass wir spätestens ab Mitte, Ende November (hängt immer vom Wetter ab) nur noch von Heu, Kräutern und etwas Hafer leben. Das heißt, unser Verdauungssystem kommt während der Winterphase nicht mit Gras in Berührung, sondern konzentriert sich auf die Verstoffwechselung von strukturreichen Bestandteilen wie Heu und Stroh.

Da unser Verdauungssystem sehr komplex ist, können Veränderungen in der Darmflora sehr schnell zu sehr negativen Folgen führen. Verschiebt sich beispielsweise der pH-Wert kommt es zu einem massenhaften Absterben jener Darmbakterien, die für eine reibungslose Verdauung zuständig sind. Der Begriff massenhaft ist hier nicht übertrieben. Pro Gramm Pferdeäpfel werden rund zwei Millionen Bakterien vernichtet. Das hat die Entstehung von Endotoxinen zur Folge, die zu schweren Stoffwechselstörungen führen, wie beispielsweise der gefürchteten Hufrehe.

Von der Wichtigkeit einer intakten Darmflora


Um zu verstehen, was sich da im Darm tut, und warum eine gesunde Darmflora lebenswichtig, ja manchmal sogar überlebenswichtig ist, hole ich jetzt mal ein bisschen aus. Schließlich muss ich mal wieder meinem Ruf als Schlaumeier gerecht werden;-) Es gibt im Volksmund ein altes Sprichwort, das da lautet: „Der Tod sitzt im Darm“ und stammt aus einer Zeit, da die Medizin noch in den Kinderschuhen steckte und man vorzugsweise mit Klistieren und Aderlässen herumdokterte. Doch wie in jeder Volksweisheit steckt auch hier etwas Wahres dahinter, wenngleich heute der Darm als Sitz der Gesundheit bezeichnet wird. Das hat einen simplen Grund: Der Darm ist das größte Immunorgan des Körpers. Und zwar logischerweise nicht nur von uns vierbeinigen Schönheiten sondern von allen Lebewesen. Somit ist der Darm nicht nur Verdauungssystem, sondern auch der Hauptsitz des Immunsystems. In der Darmschleimhaut befindet sich sogenanntes lymphoidales Gewebe, in dem rund 80 Prozent der Antikörper produziert werden, die sogenannten Immunglobuline. Diese sind für eine kämpferische Immunantwort zuständig, wenn irgendwelche Fremdlinge, also Bakterien, Viren, Pilze oder Parasiten versuchen, sich im Organismus einzunisten, um dort die Oberhand zu gewinnen. Um das zu verhindern, ist eine intakte Darmflora vonnöten. Zu den wichtigsten Kämpfern in der Abwehrriege gehören die Lymphozyten, die in den Lymphknoten des Darms, wo immerhin 80 Prozent aller Lymphknoten sitzen, produziert werden. Lymphozyten sind kleine weiße Blutkörperchen, die im Blut und den Lymphbahnen als Polizisten auf Streife gehen. Sie sind unermüdlich unterwegs und durchforsten den Organismus gezielt nach Krankheitserregern, um ihnen umgehend den Garaus zu machen. Dieses hochsensible System funktioniert reibungslos. Es sei denn Störenfriede tauchen in so großer Zahl auf, dass die Immunzellen nicht mehr hinterherkommen. Die Abwehr schwächelt, der Körper wird krank.

Die Sache mit den Fruktanen


Und hier kommen wir wieder zum Gras, nicht dass ihr denkt, ich hätte mich jetzt im Nirwana der Medizin verirrt und den Faden verloren. Keine Chance;-) Also im Frühjahr ist die Natur auf Wachstum aus. Alles soll grünen, blühen und gedeihen, auf dass der Nachwuchs - die Fohlen kommen darum auch im Frühjahr zur Welt - ausreichend Nahrung findet. Daher ist das Gras im Frühjahr besonders reich an Eiweiß und Kohlenhydraten, vor allem an Fruktanen. Und jetzt wird es brenzlig. Fruktane werden ja nicht erst seit gestern als Verursacher von Reheschüben verteufelt. Bei Fruktanen handelt es sich um Mehrfachzucker, also Kohlenhydrate. Diese werden von den Pflanzen als Energiezwischenspeicher genutzt und zwar in den Stengeln der Gräser. Im Gegensatz zur Stärke, die in den Blättern gespeichert wird. Mit diesen Kohlenhydraten hat unser Verdauungssystem aber so seine Schwierigkeiten. Diese Mehrfachzucker werden in unserem Dünndarm durch bestimmte enzymatische Vorgänge verdaut. Wenn wir nun zuviel dieser Kohlenhydrate aufnehmen, kommt unser Verdauungssystem nicht mehr hinterher und sie rutschen unverdaut in den Dickdarm. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Da unsere Darmflora auf diese Masse von Kohlenhydraten noch nicht eingestellt ist, bilden sich Milchsäurebakterien in so großer Zahl, dass die wichtigen Bakterien, die die Cellulose aufschließen sollen, von ihnen verdrängt werden und absterben. Das heißt: die guten Darmbakterien werden von bösen Darmbakterien vernichtet, das sensible Gleichgewicht im Darm ist zerstört. Bei diesem Kampf Gut gegen Böse entstehen sogenannte Endotoxine, das sind giftige Zerfallsstoffe, die nun in die Blutbahn gelangen. Die dramatischste Folge erleben viele vierbeinige Freunde als Hufrehe. Sie ist nicht nur furchtbar schmerzhaft, sondern kann lebensbedrohlich werden. Aber auch wenn es nicht zu einer Hufrehe kommt, so bleiben immer noch schwere Darmentzündungen, Koliken, Kotwasser und Durchfälle.

Beim Anweiden im Frühjahr ist also höchste Vorsicht geboten. In den meisten Ställen hat sich ja der 1. Mai als Tag des Weideauftriebs etabliert. Wer da mitziehen muss, sollte vier Wochen vorher mit seinem Pferd an der Hand mit dem Grasen beginnen. Das ist nicht immer ganz einfach, weil - wie in diesem Jahr - das Wetter oft solche Kapriolen schlägt, so dass kontinuierliches Anweiden schwierig ist. Trotzdem sollte es jeder versuchen, dem die Gesundheit seines Vierbeiners am Herzen liegt.






Lenardo, der kleine Gierheimer,
kriegt die Backen wieder mal nicht voll genug;-)


 

 

 

 

 

Ein paar Regeln zum richtigen Anweiden


Und letztlich ist das richtige Anweiden auch gar nicht kompliziert, wenn man sich an ein paar Regeln hält.

1. Regel: Der Beginn der Weidesaison muss sich nach der Höhe des Grases richten, nicht nach irgendeinem Datum. Mindestens 20 Zentimeter müssen die Gräser hoch sein. Sind sie zu kurz, ist der Fruktananteil sehr hoch und es besteht die Gefahr, dass Erde mit aufgenommen wird, was zu Verdauungsproblemen führt.

2. Regel: Vor dem ersten Graskontakt immer Heu füttern, auf keinen Fall Kraftfutter, denn auch da sind Kohlenhydrate drin, so dass sich die Aufnahme vervielfachen würde. Also Heu satt vorher, damit wir uns nicht ganz so gierig ins Gras stürzen. Auch nach dem Grasen kein Kraftfutter geben, sondern Heu.

3. Regel: Immer schön langsam ins Gras. 15 Minuten am ersten Tag sind völlig ausreichend, auch wenn wir Vierbeiner das ein wenig anders sehen und uns am liebsten vollstopfen würden. Dann jeden Tag um 15 Minuten steigern. Zweiter Tag also 30 Minuten und so weiter. Minimum der Anweidezeit beträgt zwei Wochen, besser sind aber vier. Nur so kann sich unser sensibles Verdauungssystem auf die neue Ernährung umstellen. Wer also den 1. Mai als Termin im Auge halten muss, sollte am 1. April mit dem Anweiden beginnen.

4. Regel: Zeigt sich Durchfall, sofort die Weidezeit wieder reduzieren und mehr Heu füttern.

5. Regel: Kalte Nächte und sonnige Tage sind gefährlich, vor allem für rehegefährdete Pferde, da das Gras dann besonders viel Fruktane enthält.

6. Regel: Wenn aus irgendwelchen Gründen die Anweidezeit für mehr als drei Tage unterbrochen wird, muss man wieder von vorne beginnen.

Und nach vier Wochen steht dann einem ungetrübten Weidevergnügen nichts mehr im Weg. Wir sind nun in der dritten Woche und fühlen uns rundum wohl. Nur unsere Äppel haben sich etwas verändert, die sind nämlich jetzt grüner;-)

Mittwoch, 6. Januar 2016

Wenn wir in die Jahre kommen

Altwerden ist ein Thema, das die Zweibeiner gerne ausklammern. Für sich und für uns auch. Aber wenn man bedenkt, daß wir geboren werden, um zu sterben, dann ist das Altwerden und am Ende der Tod doch nur eine folgerichtige Entwicklung. Trotzdem wird es weitgehend ausgeklammert, zumal in der Gesellschaft der Zweibeiner, die von einem völlig verrückten Jugendwahn geprägt ist. Für uns Pferde, Tiere im Allgemeinen, ist das absolut bedeutungslos. Wir machen uns über das Altwerden, Sterben und den Tod keine Gedanken. Doch darum geht es mir heute nicht. Sondern um - Überraschung;-) - die Ernährung älterer Pferde. Trotzdem lasse ich euch mit dem Thema Tod nicht vom Haken, denn ich habe dazu kürzlich etwas Hochinteressantes gelesen, das ich euch nicht vorenthalten möchte. Aber das ist ein anderes Feld und wird später beackert.

Jetzt also die Ernährung älterer Pferde. Das wurde durch Ria, fast 25, für unsere Zweibeiner zu einer hochbrisanten Angelegenheit. Bei einem Zahnarztbesuch, Anfang letzten Jahres, mussten ihr drei Zähne entfernt werden. Die waren entweder abgebrochen oder wackelten, was ihr ziemliche Schmerzen beim Kauen verursachte. Der Zahnarzt veranstaltete ein hübsches Blutbad (ich habe es genau gerochen), machte seinen Job aber ganz ordentlich. Und da es für uns keine Kronen, Gebisse oder ähnlichen Schnickschnack gibt, wie ihn die Menschen kennen, müssen wir mit den Lücken mehr oder weniger gut leben. Bei Ria ging das erst einmal weniger gut. Aber dass sie abnahm, war anfangs noch nicht so recht zu erkennen, zumal sie noch im April ziemlich langes und dickes Winterfell hatte. Die Zweibeiner waren nur heilfroh, dass sie offensichtlich wieder besser und schmerzfrei kauen konnte. Wir bekommen seither auch alle gequetschten Hafer. Das sei für Ria besser und auch für Lenardo, sagte der Zahndoktor, denn mein Freund ging ebenfalls der Kaufläche, allerdings nur eines Backenzahnes verlustig.

Drastischer Gewichtsverlust


Aber auch wenn Ria offenkundig wieder vernünftiger kauen konnte, hatte sie jetzt öfter mal mit einer Schlundverstopfung zu kämpfen. Vor allem nachdem sie ihre heißgeliebten Möhren oder einen Apfel gegessen hatte. Einmal war sogar der Hafer die Ursache. Und zwar so schlimm, dass der Tierarzt kommen musste. Nasenschlundsonde wurde gelegt, das volle Programm. Armes Mädchen, denn sowas ist ziemlich unangenehm. Natürlich fragte die Frau Doktor gleich, ob die Zähne gemacht worden seien. Das konnte selbstverständlich bejaht werden. Was war los mit unserer alten Dame? Mit der Zeit konnte man nun dabei zusehen, wie sie an Gewicht verlor. Und das, obwohl sie den ganzen Tag Heu zur Verfügung hat, wie wir alle. Außerdem war inzwischen Weidezeit fast rund um die Uhr angebrochen, und wir konnten uns wirklich satt essen. Also die Tierärztin geholt. Erstmal Blutprobe gemacht. Die war ohne negativen Befund. Später tippte Frau Doktor auf Verwurmung. Die Zweibeiner haben also fleißig an verschiedenen Tagen Rias Äppel gesammelt und die Kotproben dem Pferdedoktor mitgegeben. Das Ergebnis war, vorsichtig formuliert, irritierend. Es wurden keine Würmer gefunden, und zwar absolut gar keine. Selbst auf mehrfaches Nachfragen kam aus dem Labor die Antwort, Ria habe keine Würmer. Damit dürfte unsere Lady ein weltweit einmaliges Exemplar sein. Über Entwurmung habe ich ja schon ausführlich geschrieben. Entscheidend sind die Eier pro Gramm (EPG) im Pferdemist. Bei weniger als 200 kann man beruhigt die Hufe hochlegen. Dass ein Pferd nicht das klitzekleinste Würmchen haben soll, ist schlechterdings nicht denkbar. Denn wir leben schon seit Jahrtausenden mit einer gewissen Anzahl an Würmern, und das auch ohne große Probleme. Es sei denn, die kleinen Viecher nehmen überhand. 

Aber ein Tierarzt wäre ja kein Tierarzt, würde er, selbst in diesem äußerst unwahrscheinlichen Fall völliger Wurmfreiheit, nicht doch noch zu einer radikalen Wurmkur raten. Und zwar gleich den ganz großen Rundumschlag, damit die nichtvorhandenen Parasiten auch garantiert über den Jordan gehen. Gottlob sind unsere Zweibeiner plietsch und haben das rundweg abgelehnt. Was ergibt das denn für einen Sinn, einem angeblich total wurmfreien Pferd eine chemische Keule zu verpassen? So etwas nennt man blinden Aktionismus und wird in Tierarztkreisen (im Humanbereich übrigens auch) gern genommen, wenn man nicht mehr weiter weiß.

Dafür schrillten jetzt bei unseren Zweibeinern sämtliche Alarmglocken. Mit Riechen stimmte etwas ganz gravierend nicht, soviel war sicher. Sie hatte ständig Hunger, nahm ab, Würmer glänzten durch Abwesenheit, auch das Blutbild war in Ordnung. Was also war mit ihr los? Und so langsam dämmert es: Das hatte mit ihren fehlenden Zähnen zu tun. Jetzt wurde Fachliteratur gewälzt, ein paar pharmaferne Spezialisten kontaktiert, anstatt mich zu fragen. Ich hätte es ihnen ja sagen können. Aber mich konsultiert ja keiner...

Fakt ist: Die Futterverwertung bei Ria funktionierte nicht mehr so, wie sie sollte. Die fehlenden drei Backenzähne hatten zu einer mangelhaften Kaufläche geführt, die kein einheitliches, besser gesagt, so gut wie kein Mahlen mehr erlaubte, weil einfach der Kontakt fehlte. Heu, vor allem langstengeliges und hartes, kann auf diese Weise nicht mehr adäquat zerkleinert und damit auch nicht mehr verdaut werden. Das gilt selbst für Gras, wenngleich das aufgrund der weicheren Konsistenz noch besser verwertet werden kann. Außerdem wird Gras mit den Schneidezähnen gerupft und die sind bei Ria ja noch in Ordnung, so dass sie wenigstens das Grünzeug einigermaßen aufschließen konnte. Heu hingegen muss kräftig mit den Backenzähnen zermalmt werden. Das schaffte sie nicht mehr. In Folge dieser fehlenden Kaufähigkeit hat sie enorm viel abgenommen. Irgendwann sah sie aus wie ein alter Klepper mit herausstehenden Knochen. Und das, obwohl sie gleichzeitig gefuttert hat wie ein Scheunendrescher. Heu und Gras den ganzen Tag, und abends noch eine Ration Hafer. Trotzdem hatte sie ständig Hunger, weil einfach nicht ausreichend in ihrem Organismus ankam. Dadurch wurde sie verständlicherweise auch ein wenig unleidlich.






Beim Anweiden im April war bereits deutlich erkennbar, daß Ria rapide an Gewicht verlor, obwohl sie den ganzen Tag futterte.


 

 

 

 

Heucobs waren die Rettung


Hier gibt es nur eine Lösung, und die heißt eingeweichte Heucobs. Die sorgen für die notwendige Rauhfutteraufnahme und dafür, dass wir nicht einfach verhungern. Nachdem für unsere zweibeinigen Freunde die Ursache feststand, starteten sie einen Großeinkauf: Heucobs vom Feinsten mit vielen Kräutern wurden zentnerweise in Säcken angekarrt. Ria wurde langsam auf die neue Nahrung vorbereitet. Glücklicherweise mochte sie die Heucobs von der ersten Ration an. Die dufteten auch sehr angenehm. Leider bekamen wir davon nichts ab, sondern durften ihr nur Gesellschaft leisten, wenn sie sich den Magen vollschlug. Dreimal täglich, jetzt, wo es so kalt war, sogar viermal, wandern nun eingeweichte Heucobs in ihren Magen. Pro 100 Kilo Körpergewicht können bis zu 1,5 Kilo verfüttert werden. Tja, und dann haben die Zweibeiner täglich geschaut, ob es auch schon anschlägt und bei jedem Millimeter gejubelt. Viele sagen nämlich, ältere Pferde würden nur sehr schwer wieder zunehmen, wenn sie erst einmal abgenommen haben. Aber Ria hat alle eines Besseren belehrt. Und wir haben natürlich Tag für Tag die Hufe gedrückt. Nach ungefähr zwei Monaten zeigten sich die ersten Erfolge doch deutlich. Sie wurde runder, die Kuhlen an den Flanken füllten sich langsam, ihr Fell glänzte mit ihren Augen um die Wette. Und wieder zwei Monate später lief sie wie eine junge Stute, galoppierte mit uns über die Weide und war voller Elan und Lebensfreude. Wir haben uns alle gefreut wie verrückt. Vor allem ich, als Herdenchef. Was hätte ich denn ohne meine Leitstute getan? Für diesen Job taugt der Shettyzwerg Lilly ja nun wirklich nicht. Und die beiden anderen, Lenardo und Poker sind zwei Spielkälber, die haben immer nur Flausen im Kopf. Die ganze Arbeit bleibt ja an mir und Ria hängen. Ich war also heilfroh, dass meine alte Dame wieder auf die Hufe gekommen ist. Und natürlich mümmelt sie auch weiterhin ihr Heu (Gras sowieso), das ist ja auch Beschäftigungstherapie und sorgt für Ausgeglichenheit und Wohlbefinden. Ihre schlechte Laune ist jedenfalls verschwunden.

Ria ist mit ihren Kauproblemen weder ein Einzelfall noch etwas Besonderes. Das ist bei uns Pferden einfach eine ganz normale Entwicklung und Alterserscheinung. Im Laufe der Jahre verschwinden unsere Zähne kontinuierlich durch den Zahnabrieb. In der Jugend haben wir etwa zehn Zentimeter lange Kronen mit einer rauhen Schmelzeinfaltung, die das Zermalmen von Nahrung ermöglicht. Pro Jahr schiebt sich der Zahn um zwei bis drei Millimeter aus dem Zahnfach heraus, wird aber gleichzeitig um genau diese zwei bis drei Millimeter abgenutzt. Das heißt, die Krone wird immer kürzer. Im Alter von 20 bis 30 Jahren ist bei den meisten von uns nur noch ein ziemlich kümmerlicher Wurzelrest vorhanden. Keine Schmelzeinfaltung, keine Rauhigkeit mehr, das Zerkleinern der Nahrung wird irgendwann unmöglich. Wie rasch der Abrieb vonstatten geht, hängt allerdings stark mit der Ernährung zusammen, die diesen Abrieb beeinflusst. Und davon, ob der Zahnarzt regelmäßig unser Gebiss kontrolliert. Der bleibt meiner alten Dame auch in Zukunft nicht erspart. Damit Haken, Kanten und Stufen oder gar lose Zähne entfernt werden können.

Keine Frage, in freier Wildbahn würden wir im Alter verhungern. Denn dort gibt es keinen Pferde-Zahnarzt und keiner, der uns Heucobs einweicht. Dass manche von uns dennoch ein geradezu methusalemisches Alter erreichen können, trotz mangelhafter Kaufläche und fehlender Zähne, haben wir allen treusorgenden Zweibeinern zu verdanken.